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Wie jeden Morgen

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Wie jeden Morgen schlage ich die Augen auf, blicke an die fleckige Zimmerdecke und bleibe noch einen Moment liegen. Eigentlich habe ich keinen Grund, aufzustehen, doch wie jeden Morgen tue ich es trotzdem. Im Bad blicke ich in den kleinen Spiegel und bin wie jeden Morgen erschrocken über mein eingefallenes Gesicht. Als ich fertig bin, gehe ich in die Küche, nehme eine Scheibe Brot und ein Glas Wasser und setze mich wie jeden Morgen ans Fenster. Während ich esse, schaue ich nach draußen, betrachte das trockene Gras und anschließend die eingerostete Pumpe. Wie sonst auch wandert mein Blick weiter, verweilt am morschen Zaun und schließlich am leeren Brennholzverschlag.
Nachdem ich aufgegessen habe, stehe ich auf, stelle wie jeden Morgen mein benutztes Geschirr in die Spüle und setze mich an den Küchentisch, der mir gleichzeitig als Arbeitsplatz dient. Vor mir liegen ein paar leere Blätter, daneben ein abgenutzter Bleistift und ein paar Fetzen Papier, auf denen halb angefangene und wieder durchgestrichene Sätze und Teile von Gedichten stehen. Wie es mir zur Gewohnheit geworden ist, nehme ich ein neues Blatt vom einstmals hohen Stapel, stelle fest, dass es eines der letzten ist und starre unentschlossen darauf. Mein Kopf ist voll mit Gedanken und Ideen, doch wie jeden Morgen gelingt es mir nicht, sie zu ordnen. Nach einer Weile beginne ich, ein paar Wörter auf das Papier niederzuschreiben, versuche, meine Gefühle in Worte zu fassen, um mir selbst ihrer klarer zu werden und sie für die Nachwelt festzuhalten, doch wie jeden Morgen verwerfe ich das Geschriebene wieder.
Unzufrieden verlasse ich die Küche und gehe hinaus, lasse meinen Blick über die umliegende Landschaft schweifen. Es ist nicht unidyllisch hier, auf den sanften Hügeln ringsum kann ich sogar ein paar zarte Blumen entdecken, doch dies ist nicht meine Heimat.
Wie jeden Morgen wende ich wehmütig den Blick ab und weiß, dass der restliche Tag nicht anders verlaufen wird als die unzähligen vergangenen. Ich betrete das Gebäude, das mir inzwischen vertraut geworden ist und das ich doch nicht Heim nennen möchte.
Doch ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass der nächste Tag anders und das Blatt sich wenden wird.
Wie jeden Morgen.
Diese Kurzgeschichte ist vielleicht etwas besser zu verstehen, wenn man weiß, dass sie durch die im Exil entstandenen Gedichte "Über die Bezeichnung Emigranten" und "Gedanken über die Dauer des Exils" von Bertold Brecht inspiriert wurde. Gerade das zweite Gedicht ist meiner Meinung nach sehr lesenswert, auch wenn ich persönlich es nicht gleich beim ersten Lesen verstanden habe. Trotzdem oder gerade deshalb sollte man es sich unbedingt einmal zu Gemüte führen, wenn man etwas Zeit hat, sich mit dem Thema zu befassen.

Kommentare mit Meinungen und Verbesserungsvorschlägen sind wie immer erwünscht :)
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Tutziputz's avatar
Eine sehr gut geschriebene, wehmütige Geschichte, die tatsächlich an das von Dir genannte Brecht-Gedicht erinnert. Aber es gibt auch interessante Unterschiede.

Während Brecht der Hoffnungslosigkeit Ausdruck verleiht, indem er durch den langen Zeitversatz in der zweiten Gedichtshälfte den anfangs geäußerten Glauben an eine schnelle Rückkehr ad absurdum führt, ist es bei dir vor allem die Eintönigkeit des Lebens, durch das diese Geschichte so bedrückend wirkt. Ein sehr interessanter neuer Aspekt!


Nicht weil es wichtig wäre, aber mir sind noch ein paar fehlende Kommata aufgefallen. So fehlen 
Kommata nach "Als ich fertig bin"; "Während ich esse"; "Nachdem ich aufgegessen habe"; "Wie es mir zur Gewohnheit geworden ist" und "in Worte zu fassen".

Außerdem würde ich die prinzipiell optionalen Kommata vor einem erweiterten Infinitiv entweder konsequent setzen (was von mir persönlich bevorzugt wird), oder aber konsequent nicht setzen. Du hingegen setzt sie mal 
(z.B. bei "gelingt es mir nicht, sie zu ordnen" oder "Nach einer Weile beginne ich, ein paar Wörter auf das Papier niederzuschreiben") und mal nicht (z.B. bei "versuche meine Gefühle in Worte zu fassen" oder "Eigentlich habe ich keinen Grund aufzustehen").