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Murmeltier

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PepperLady's avatar
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Etwas pfeift. Ich schaue von der Blume auf, die ich eben fotografiert habe, und lasse meinen Blick über die weiten Bergketten schweifen, die mich umgeben. In sattem Grün leuchten ihre Hänge dort, wo keine schroffen Felsen herausragen. Manche Wiesen sind übersät mit einer Vielzahl von Wildblumen und Kräutern, die die Luft mit ihrem Duft erfüllen und nicht nur mich, sondern auch verschiedenste Insekten anlocken.
Es pfeift erneut. Ein Murmeltier. Es scheint sich auf der gegenüberliegenden Hangseite zu befinden, doch sie ist zu weit entfernt, als dass ich das Tier mit bloßem Auge ausmachen könnte.
Ich schließe meine Augen und sauge den intensiven Duft ein, versuche, die Tränen zurückzuhalten. Als ich sie blinzelnd wieder öffne, ist mir fast, als würdest du dort neben mir stehen, doch es ist nur der Schatten eines Felsens, der hinter mir aufragt. Ich denke daran, wie sehr es dir hier gefallen würde, wie sehr du dich auf diese Reise gefreut hattest. Unser persönliches Paradies wollten wir hier finden auf den Gipfeln abseits der Touristenhochburgen. Ich war sofort begeistert gewesen, als du das Gebiet vorgeschlagen hattest, auch wenn ich einige Bedenken wegen der Belastung hatte. Mit den Murmeltieren wäre es sogar ein bisschen wie bei dir zuhause, hattest du mit einem Lächeln gemeint, bei dem deine Grübchen hervorgetreten waren und deine Augen selbst auf dem Bildschirm so lebendig geleuchtet hatten wie schon lange nicht mehr und mich meine Sorgen schnell vergessen ließen.
Diese Reise war dein Traum gewesen, mit dem du mich angesteckt hattest. Mich hattest du auserwählt, sie mit dir anzutreten.
Mit deinem Fernglas warst du schon immer ein Meister im Murmeltierentdecken gewesen: das erste, was ich über dich erfahren hatte und eine der vielen Eigenschaften, die mich stets in Erstaunen versetzen konnten, auch wenn sie schon seit längerer Zeit keine praktische Bedeutung mehr für dich hatten.
Mein Traum war diese Reise gewesen, auf der ich dich endlich getroffen hätte. Ich habe immer noch deine Stimme im Ohr, leise und vertrauenerweckend. Die von Beginn an empfundene Nähe wäre endlich Realität geworden, deine geflüsterten Worte nach so langem Warten nun direkt an mein Ohr gelangt, den Lufthauch deines Atems hätte ich dabei gespürt.
Ein sanfter Windstoß trägt den Blütenduft fort und ich spüre dort, wo er über meine Wangen streicht, eine kühle Feuchte. Ich tupfe die Tränen mit den Spitzen meiner Finger fort, so wie ich mir immer vorgestellt hatte, dass du es tun würdest. Doch du bist nicht hier, deswegen muss ich es selber machen.
Vier Augen sehen mehr als zwei und ich habe die Angewohnheit, mein Fernglas zu vergessen. Du bist nicht hier und deswegen bleibt das Murmeltier für mich unsichtbar.
Diese Reise war dein Traum, war unser Traum geworden, und nun lebe ich ihn allein.
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Pereyga's avatar
Es ist wirklich ziemlich traurig, wie mein Vorredner schon sagte.
Die Protagonistin befindet sich an diesem schönen Ort (scheinbar Urlaubsreise), aber die Person, mit der sie diese Schönheit gemeinsam erleben und teilen wollen würde, ist nicht da. Was für mich durchkommt, ist die Sehnsucht, dass sie mit jener anderen Person zusammen dort sein könnte.
Wenn ich etwas finde, das ich schön finde, stelle ich mir auch manchmal vor, wem ich das gerne einmal zeigen wollen würde. Hier in diesem Text scheint es aber ja wirklich ein gemeinsamer Plan, ein gemeinsamer Traum gewesen zu sein. Ich frage mich, was mit der anderen Person passiert ist. Lebt sie nicht mehr? Ein paar Stellen klingen irgendwie so nach 'Internetbeziehung', die sich noch gar nicht getroffen haben. Vielleicht wurde der Erzähler ja versetzt ?
Das wären so meine Gedanken dazu.